Rezensionen über Thomas Lehmen, unvollständig
distanzlos
"Sein Stück handelt vielmehr von den Gründen, warum die Kunst nicht wie das Leben selbst funktioniert. Viele Stichworte drehen sich um die Paradoxien der Performance, die das Erlebnis und seine symbolische Auswertung zugleich will: "alles kommentieren", "dreimal unverhofft zusammenbrechen". Nur weniges führt Lehmen auf der Bühne aus, dann aber erschreckend intensiv."
Katrin Bettina Müller (die tageszeitung)
"Erstes Oberhausener Arbeitslosen Ballett"
Arnd Wesemann in Tanz April .2019
schlingensiefs nachfolger________
das erste oberhausener arbeitslosen-ballett
Der berühmteste Sohn der Ruhrge- bietsmetropole Oberhausen heißt Christoph Schlingensief. Der 2010 gestorbene Künstler lud die damals sechs Millionen Arbeitslosen zum Baden ins Urlaubsdomizil von Ex- Bundeskanzler Kohl am Wolfgangsee ein, gründete die Obdachlosenpartei «Chance 2000» und errichtete zu den «Wiener Festwochen» ein Container- dorf für Asylbewerber, die nach dem Vorbild von «Big Brother» durch täg- liche Abstimmungen hinauskompli-
mentiert wurden. Der bekannteste Choreograf der Stadt Oberhausen, Thomas Lehmen, tritt nun in seine Fußstapfen. Lehmen hat die erste aus Arbeitslosen bestehende Tanzkompa- nie der Republik gegründet. Geprobt wird standesgemäß in einem Jugend- zentrum und im Vereinshaus des CVJM. Dreizehn Mitglieder hat die Truppe zur Zeit, bezahlt wird sie auch, und das ist das Problem für alle Be- teiligten. Denn wer als Arbeitslosen- geld-2-Bezieher mehr als 100 Euro im
Monat einnimmt, darf nur zehn Pro- zent behalten und muss den Rest ans Jobcenter zurückzahlen. Der Versuch, die Kunstaktion als Fortbildungsmaß- nahme zu deklarieren, scheiterte am deutschen Sozialgesetzbuch, weil Kunst nicht vorgesehen ist.
Kurzerhand hat Lehmen seine Ar- beitslosen und sonstige zwischen die Stühle gerutschte Teilnehmende zu «göttlichen Wesen» erklärt, die aus ih- ren tatsächlichen Fähigkeiten – keiner von ihnen ist Tänzer – ihr Bewegungs-
material entwickeln, um lautstark und tanzwütig ihr großes Problem zu the- matisieren: nicht arbeiten zu dürfen. Mit dem Slogan «Brauchse Jobb? Wir machen Tanz!» zeigt der Choreograf den Widerspruch auf zwischen Regel- satz und der Unterbindung künstleri- scher Arbeit zum gesetzlich bestimm- ten Mindestlohn. Diesen staatlich geregelten Widerspruch kann nur das Land NRW lösen: indem es die Trup- pe künftig finanziert.
Arnd Wesemann
april 2019___tanz 21
Thomas Lehmen (dt.)
Thomas Lehmen hatte mehrere Arbeiten entwickelt, die sich mit Fragen der Systemtheorie und der sozialen Interaktion auseinandersetzten („Funktionen“, „Kaffee, Kuchen, Menschen, Arbeit“, „Lehmen lernt“). Nun ist er zum Philosophischen zurückgekehrt. Wenn ich (Tanz-) Kunst mache, so Lehmens beharrliche Frage, an wen wende ich mich damit überhaupt? In „Schrottplatz“ tanzt er vor allem für die Dinge, die er gebeten hat, auf der Bühne Platz zu nehmen. Ihnen erklärt er die menschliche Welt. In „Heromatik“ stellt er den Menschen die Dinge in ihrer Verzauberung vor, um damit das Ende der Welt zu erklären. Diese Zwiesprache in Grenzbereichen zeigt sich auch in Lehmens ausgedehnter Lehrtätigkeit, die unterschiedliche Weltsichten nicht zu harmonisieren oder zu vereinheitlichen, sondern zu respektieren versucht. Wie viel Platz allerdings die Welt bereit ist, der Kunst einzuräumen und ihrer Fähigkeit, Unvereinbares hervorzubringen, das bleibt eine „unanswered question“. Denn Kunst ist für Lehmen kein Modell der Gesellschaft, sondern ein Medium der Unsicherheit. Wie die Welt – ob der Dinge oder der Menschen.
Franz Anton Cramer
"A Piece for You"
Elisabeth Nehring "A Piece for You", Deutschlandradio
" ... Was für mich wirklich gut funktioniert hat, ganz positives Gegenbeispiel, Thomas Lehmen, der war mal ein ganz großer Name der 90er Jahre in Berlin (1.)
und dann ist er total verschwunden, man dachte immer wo ist eigentlich Thomas Lehmen. Er hat ein ganz idealistisches Projekt in den letzten Jahren durchgezogen, jetzt ist er nach Berlin gekommen um in einem Zelt jeweils zwei Leute zu empfangen und von diesem Projekt zu erzählen, in das er sehr viel Energie und sehr viel Geld gesteckt hat. Denn Thomas Lehmen ist mit dem Motorrad einmal um die Welt gefahren, er hat Europa, Asien, Nord- und Südamerika (2.) durchquert um an verschiedenen Orten Workshops zum Thema "Schenken" abzuhalten. Er hat sich nämlich überlegt, dass das, was alle Kulturen verbindet das Geschenke-Machen ist. Dies kommt in allen Kulturen vor, und an verschiedenen Orten der Welt hat er mit Partnern Workshops abgehalten, worum es dabei ging, eine kleine Performance oder ein Konzert als immaterielles Geschenk zu erarbeiten. Das Großartige ist aber auch zwischen diesen Stationen passiert, er hat sich extra entschieden eben nicht zu fliegen sondern mit diesem Motorrad die Welt zu durchqueren. Man kann sich ganz leicht vorstellen, dass er unglaublich viele Menschen getroffen und Erfahrungen gesammelt hat, und von diesen Erfahrungen hat er uns erzählt. Wir hören mal rein:
"... Richtung Osten, und weiter im Osten gibt’s die muslimische Gastfreundschaft, die lassen dich auch nicht abends auf der Straße stehen, sondern laden dich ein: ”Nein, nicht ins Hotel, hier gibt es sowieso kein Hotel, also kommst Du mit zu uns, denn die Mutter kocht doch auch gleich!" Da gibt es solche unausgesprochenen Regeln, ich habe also auch gelernt, wie man sich dort verhalten muss, und eben auch gelernt, dass Zeit-miteinander-zu-verbringen eigentlich das wichtigste Geschenk ist."
Dazu zeigt Thomas Lehmen dann sehr viele Fotos, und es entsteht ein ganz buntes Panorama. Ich fand es ein wirklich sehr beeindruckendes Projekt indem wie er erzählt hat und man wünscht sich, dass aus all diesem Material, das über die vielen Jahre gesammelt wurde, wirklich noch einmal eine richtig große Dokumentation entstehen kann."
(Anmerkungen: 1. Der Arbeitzeitraum den E.N. über T.L. in Berlin meint, lag zwischen 1997 und 2007.2. Nicht Südamerika wurde durchquert, dies steht bislang noch aus, das Projekt lief zuletzt mehrere Monate in Mexico.)
Tanz im Konjunktiv
Thomas Lehmens Solo "Distanzlos"
Frankfurter Allgemeine Zeitung / Berlin •bullet 1 Apr 1999 • German
Zweimal pro Jahr richtet die "Zentrale Spielstätte für die freie Szene Berlins", auch bekannt als Theater am Halleschen Ufer, die TanzZeit aus, eines der mittlerweile zahlreichen Berliner Podien, deren Programm verfolgen muß, wer wissen will, wohin die Karawane des Tanzes gerade zieht.
Auf dem Programm stehen auch wichtige Wiederbegegnungen: So wird der frischgebackene 3. Preisträger des Deutschen Produzentenpreises für Choreographie, Jo Fabian, seine choreologische Arbeit "Blown Away" nochmals zeigen und mit "die anderen und die gleichen" die erste Gruppenarbeit der eigensinnigen Schweizer Choreographin Anna Huber wieder ins Programm genommen.
Erste Uraufführung bei TanzZeit 2/99 war "Distanzlos", die vierte Soloarbeit von Thomas Lehmen. Dessen künstlerische Biographie hat's in sich: Geboren in Oberhausen, kam er von der Rockmusik über die Maloche bei Krupp an die renommierte School for New Dance Development in Amsterdam, avancierte erst zum Gruppentänzer (u. a. bei Sasha Waltz & Guests), dann zum Solisten, dessen drei furiose Stücke "extended version", "friendly fire" und "No Fear" von 1997/98 ihm sogleich Stipendien des Goethe-Instituts und einen Gasthaufenthalt am mondänen Bergen International Theatre einbrachten, Norwegens Avantgarde-Bühne, wo er "Distanzlos" erarbeitete. Ein Höhenflug also, und damit verbunden die Aufforderung zum Tanz. Lehmen kommt ihr in "Distanzlos" auf verblüffende Weise nach: Er setzt sich in Anführungsstriche. All die Ideen und Einfälle, die er hätte zum Tanzthema machen mögen, aber nicht hat machen können, werden aus seinem Proben-Notizbuch vorgetragen und nur einige auch angespielt.
Zum Beispiel das Mikrophon als körperliche Abtastnadel: Lehmen fährt sich mit damit krachend über's zerknitterte Schlafanzugoberteil, schnurrend über die glatte Haut des Unterarms, stößt es sich selbst dumpf vor den Kopf und steckt es schließlich in den Mund, um, wie angekündigt, "Keuchen, Schluchzen, Kichern" über die Lautsprecher auszusenden. Ohne bewegungsästhetischen Ballast kommt der Körper selbst zur Sprache. Im zeitgenössischen Tanz soll der sowieso nicht mehr Ort des Wahren und Schönen, sondern des Unmittelbaren sein, ohne ästhetische Überhöhung, allenfalls sinnlich verstärkt. Wirkung ja, Willen nein heißt die Parole. Darum wohl auch der Hinweis auf's Tourette-Syndrom, jene Peinlichkeits-Krankheit, bei der der Patient unwillkürlich obszöne Wörter oder zumindest unmotivierte Schreie ausstoßen muß, begleitet von heftigen Zuckungen. Soweit kommt es aber nicht an diesem Abend, dessen mögliches Thema immerhin auch lautete: "Den Nullpunkt zeigen, ohne der Nullpunkt zu sein." Treffender läßt sich das derzeit avancierteste Tanzgeschehen kaum umreißen, das schon lange vom Indikativ zum Konjunktiv übergesprungen ist – es hätte getanzt werden können.
Arnd Wesemann
Lehmen lernt
Wenn er eins nicht gelernt hat, dann das: Problemen aus dem Weg zu gehen. Thomas Lehmen stellt sich ihnen mit masochistischer Lust. So erweist sich Lehmen lernt am Ende als ein erheiternder Exkurs in Sachen Selbsterfahrung und -findung. Zunächst entpuppt er sich allerdings als Kind im Mann, immer die Rassel in Griffweite. Wie eine endlose Litanei wiederholt der Choreograf aus Berlin eine Stunde lang sein «Ich habe gelernt ...», ohne sein Auditorium zu ermüden. «Ich habe gelernt zu atmen ... zu schreien... zu krabbeln... zu spielen... Zeichen zu geben ...» Lehmen erweist sich im blauen Overall weder als Hohepriester der Kunst noch als Lehrmeister seiner selbst. Er ist, wer er ist: ein lernbegieriger Performer, der nicht die geringste Scheu davor hat, sich zwischendurch auch mal mimisch zum Affen zu machen. Hauptsache, das Publikum zieht daraus Gewinn, und das fühlt sich bei der Tanzplattform in Stuttgart von dem choreografischen Clown bestens unterhalten. Sich eine rote Nase aufsetzend, hält Lehmen zum Schluss den Zuschauerselbst zum Narren – und lässt als Nachspiel eine Film-Lektion folgen, von der man annehmen darf, dass ihm beim Lernen nicht unbedingt zum Lachen war und dass weitere folgen werden. Lernen kann sanstrengend sein, wenn man das Gegenteil einer so genannten Wahrheit beweisen will: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr. reg
Wieder: 28. April, PACT Zollverein, Essen und 6. Mai, Nottdance, Nottingham.
Bita 0406
“Mr. Lehmen's marvelous quartet was marvelously performed on Thursday night by Marc Rees, Patrick Michael Stewart, Cheryl Therrien and the company's artistic director, John Scott. The dancers offered a multitude of views (jotted down on their arms, lest they forget), that included, among other thoughts, that ''it is better to live in Chelsea and have a small dog,'' or ''hold an awkward position for as long as possible,'' or ''kiss somebody for the very last time.'' Some opinions functioned as statements and others as orders, with all four studiously enacting tasks, both mundane and absurd, until the next better thing was proposed. Simply watching the four of them move to the center and imitate a dead thing was worth the price of admission. But the most exciting moments came in the fleeting, possibility-laden spaces between spoken ideals and physical replications, when a lively creative energy engulfed performers and audience members alike: ''What will they do? What would I do?'' Claudia LaRocco NEW YORK TIMES
Lehmen lernt
Learning is leaving
Martin del amo learns from thomas lehmen’s lernt
RealTime issue #82 Dec-Jan 2007 pg. 29
BLENDING DANCE WITH SPOKEN TEXT, LEHMEN LERNT IS A WITTY MEDITATION ON LIFE AS A NEVER-ENDING LEARNING PROCESS. CLAD IN A BLUE WORKMAN’S OVERALL, THOMAS LEHMEN PERFORMS ON AN ENTIRELY WHITE STAGE. HE SPEAKS GERMAN; ENGLISH SURTITLES ARE PROJECTED AGAINST THE BACK. THE WORK’S PREMISE IS DECEPTIVELY SIMPLE. LEHMEN RECITES A LONG LIST OF THINGS HE HAS LEARNED IN LIFE, EACH STARTING WITH “I LEARNED TO...” MANY OF THE STATEMENTS ARE FOLLOWED BY PHYSICAL DEMONSTRATIONS.
The German choreographer and performer is widely regarded as one of Europe’s most innovative and forward-thinking dance artists of recent years. Regularly presenting work at dance festivals worldwide, Lehmen recently paid his first visit to Australia. He was brought out to teach workshops for STRUT Dance in Perth and Critical Path in Sydney. In Sydney, Lehmen also presented his solo Lehmen Lernt (Lehmen Learns), for one night only, as part of the Goethe Institut’s GerMANY FACES australia arts festival.
Lehmen’s learning list is eclectic, detailing a wide range of activities. At first it seems as if it’s chronological, starting with the skills Lehmen acquired as a newborn—screaming, breathing, drinking, looking. Then he learns to crawl, walk, play, speak. And later to read, write, count, calculate, ask questions. It is not until Lehmen tells us that he learned to construct machines and build houses, bridges, schools and theatres that we realise that he is not necessarily only talking about himself. Lehmen Lernt explores the art of learning as a universal phenomenon but the artist keeps listing his alleged learning experiences in the first person—navigating a rocket to the moon, giving birth, organising wars, taming wild animals.
Lehmen’s physical interpretations of his statements are often amusing, especially when he moves away from the purely illustrative. “I learned to make art” is followed by Lehmen standing on a spot with his back to the audience, lifting his arms to the sides and screaming “art.” For “I learned self hypnosis” Lehmen assumes the roles both of hypnotist and hypnotised, engaging in a hilarious dialogue. “I learnt to avoid my problems” has him navigate the empty stage as if dodging invisible obstacles.
Towards the end, Lehmen puts on a red nose and tells the audience, in the persona of a clown, what his original intention for the work was—to bring together on stage a group of people, each one with a different set of skills. They would then share their knowledge, profit from each other and in this way try and make the world a better place. There is no doubt that this idea is as fabulous as it is silly. But then, Lehmen had already told us: “I learned to be naïve, dumb, full of pathos and, again and again, empty and stupid.”
Thomas Lehmen tackles his subject matter with humour and intelligence in equal measure. Every aspect of the performance seems thoroughly thought through. This applies to the concise writing and its crisp delivery as well as to the predominantly gestural movement vocabulary that is executed with impeccable precision. There is also a tremendous conceptual rigour evident in the work. The extent of the artist’s research is revealed later in the piece when a film is screened showing him with various teachers. He learns, among other things, to bake a cake, sweep the streets, fly a small plane, whistle to musical accompaniment, fish, beatbox and speak Japanese.
Through the film, we learn how strongly Lehmen’s research has fed the creation of the piece. For example, the blue overall was the one he wore when he developed his clown persona, under the attentive instructions of a clowning teacher. We also discover that many of the moves Lehmen uses on stage are inspired by his training in dance and martial arts. It is striking to see how committed Lehmen is to his numerous lessons and how seriously he takes the act of learning. He is clearly an astute observer, driven by great curiosity.
Lehmen Lernt treads a fine line between being truly profound and utterly banal. But then maybe the difference between the two is not as great as often perceived. Thomas Lehmen certainly seems to believe that learning is not only about acquiring skills but also a way of trying to make sense of the absurdities and complexities of life. It is this belief that, ultimately, makes Lehmen Lernt a deeply humanist work and a highly entertaining and intellectually satisfying one.
Lehmen Lernt; concept, choreography, dance, text by Thomas Lehmen, Performance Space, Goethe Institut, gerMANY FACES australia, CarriageWorks, Sydney, Oct 6
RealTime issue #82 Dec-Jan 2007 pg. 29
Constanze Klementz
Bahnsteigfegen, Beatboxen, Kunstpfeifen
Kunst und Katharsis auf der deutschen Tanzplattform 2006
Theater der Zeit •bullet 1 Apr 2006 • German
Thomas Lehmen steckt das Publikum locker in die Tasche seines Blaumanns, mit Kunsttückchen und närrischer Binsenweisheit. „Lehmen lernt“ knüpft an seine Anfänge an - geradlinige, ruppige Soli - und es behandelt ein Thema, das die Evolution mit der „Sendung mit der Maus“ verbindet. Die Kunst des Lernens. Beginnend mit der Geburt und in kleinen Schritten einmal quer durch die Menschheitsgeschichte. Lehmen lernt schreien, atmen, trinken, schauen. Später lesen, schreiben, scheißen. Dann Brücken, Straßen, Kraftwerke bauen, Freiheit als höchstes Gut betrachten, Kriege führen und sich von der Bewegung leiten lassen. Live und im Film sieht man ihn im Feldversuch, sich die Erde Untertan machend. Beim Kuchenbacken, im Flugzeug, im Kanu, beim Bahnsteigfegen, Beatboxen, Kunstpfeifen, Schreinern und Meditieren. Alles unter fachkundiger Anleitung von Leuten, die ihr Ding verstehen. Wie Lehmen ihnen das abguckt und wir ihm dabei zugucken, wie er hoch konzentriert vormacht, was er vorher lange genug nachgemacht hat, ist so platt und tiefgründig wie die Hingabe, mit der bei Shakespeare ein Handwerker einen Schauspieler vorstellt. Als dummer August mit Pappnase (auch Clownerie hat er nämlich gelernt) posaunt Lehmen schließlich aus, was das ganze Theater soll und will: gemeinsam die Welt verändern. Blöd klingt das, banal, aber auch toll. Luzide balanciert er zwischen Zirkusnummer und Publikumsbeschimpfung, bis man erst ganz am Ende merkt, dass der Tanzbär die Zähne fletscht, noch während er brav für uns brummt.
mopno subjects
"Thomas Lehmen spielt gern und spielt gern vor. In den letzten Jahren führte sein Weg in der Tanzlandschaft zu recht steil nach oben: Das letzte Solo "distanzlos" gehörte zu den international erfolgreichsten Stücken der freien deutschen Szene. In diesem Jahr arbeitet Lehmen als artist-in-residence im Berliner Podewil, einer freien Aufführungsstätte und "mono subject" ist das erste in diesem Rahmen zu Ende gebrachte Stück. Doch halt, nein, - haben wir denn gar nichts begriffen? Das Ende selbst taugt gerade mal als Witz, der den Blick aufs Kommende, nämlich weitere Performances über die Performance von Performances eröffnet: mono subject ist wahrscheinlich die erste Uraufführung, die mit dem Verlesen ihrer Kritik endet."
Constanze Klementz (Kieler Nachrichten, 12.04.01)
"Der Mann redet viel. Er steht auf der Bühne und sagt, was er tut. Ganz unverblümt und gerade heraus. Vielleicht durchleuchtet er noch die eine oder andere Stimmungslage, die ihn da vorne Auge in Auge mit den Zuschauern befällt. Er teilt sich mit. Er spricht über das, was ihn bewegt. Schließlich ist der Mann Tänzer. Ein Tänzer, der denkt, der, wie er es selbst ausdrückt, "hinter die Bewegung zu blicken versucht" und dabei seinem Publikum sagen will": Das ist es, was ihr seht, nichts weiter." Der 38jährige Lehmen begreift sich immer noch als "Handwerker", der stets den Tänzer auf die Bühne stellt. Und wenn der Choreograph, wie jetzt in seinem neuesten Stück "mono subject", zusammen mit weiteren Tänzern (Maria Clara Villa-Lobos, Gaetan Bulourde) arbeitet, dann verweigert er Vorgaben, die möglicherweise Projektionen erzeugen können, um an etwas heranzukommen, das er mit "Wahrheit" bezeichnet." Äußerst präzise beobachtet sind Lehmens hoch sensible Bewegungsstudien, die mit einem feinsinnigen gesponnenen Gedankengebäude im ständigen Dialog stehen."
Irmela Kästner (die tageszeitung / Hamburg, 17.05.01)
"Lehmen verfolgt in seiner Arbeit ganz existenzielle Ziele. Letztlich geht es ihm um das Sein des Performers, der einzig sich selbst ausstellt, befreit von rollen und Stildiktionen. Was ist wahr, was inszeniert, was real im theatralen Kontext? Bestechend einfach geht der Wahlberliner in seinen Choreographien die Frage an, um sie in einem komplexen Gefüge um Identität, Original und Fälschung intelligent zu verdichten. Doch Lehmen kokettiert nicht. In seiner verbindlichen Haltung liegt eine Menge Wahrheit. Und seine Stärke als Choreograph und Performer, aus der er immer wieder erfrischend neue Bewegungen schöpft."
Irmela Kästner (die tageszeitung / Hamburg, 19.05.01)
"Solche Skepsis gegenüber dem Tanz als Unmittelbarkeitsbehauptung hegt auch der Berliner Performenskünstler Thomas Lahmen. Seit Anfang dieses Jahres "artist in residence" im Podewil, wo sein Stück " mono subject" fertiggestellt wurde, wählt Lehmen indessen einen anderen Weg der Selbstbefragung. Hier soll nichts kreiert, keine Emotionen erzeugt und kein Thema verarbeitet werden. Wir sehen den nachträglichen Bericht eines Echtzeitvorgangs und zugleich ein donquichotteskes Bewegungs-Referat, einen
luziden Kampf gegen die Windmühlen der Aufführungskonventionen. Mit "mono subject" aber soll gerade der unhintergehbare Rest gesucht werden, die problemfreie, rein materielle Zone der Bühne, sozusagen der grüne Rasen vor dem Bundesligaspiel. Und darin begegnen sich bei aller Gegensätzlichkeit in Stil und Form Khan und Lehmen, die quecksilberhafte Flüchtigkeit der Tanzbewegung und die konzeptionelle Tanzverweigerung: für beide ist die Selbstverständlichkeit verloren.Der Glaube an einen verborgenen Kern aber bleibt in die Bildwelt der Bühne eingesenkt. So gesehen ist Europa - oder vielmehr der Westen - eben
doch nicht "out", sondern kann sich gerade mit seinem bisweilen hysterischen Problembewusstsein behaupten."
Franz Anton Cramer (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.04.01)
„Artig stellt Lehmen zu Beginn seine Mitspieler inklusive des Lichttechnikers vor und beschreibt den Raum mitsamt seinem Inhalt. Jeder ist was er ist. Der Raum ist der Raum und sonst nichts. Keine verklärenden Illusionen soll hier aufkommen. Überraschungen ausgeschlossen. Deshalb zeigt uns Maria Clara Villa - Lobos in einem Prolog gleich alle Bewegungen im Schnelldurchlauf, die im Stück vorkommen werden. Am Ende
wiederholt sie sie noch einmal. Doch da haben sich schon längst Zweifel eingeschlichen. Hat man wirklich alle Bewegungen, die Villa - Lobos hier isoliert, um sie flink wieder in Fluß zu bringen, auch vorher gesehen? Maria Clara Villa - Lobos lässt ihre Kollegen eine Jazztanz - Routine üben, spielt mit Lehmen " die nackte Wahrheit", ein Spiel, bei dem ihr Partner nur die Wahrheit sagen darf. Doch ob er wirklich einmal in London als Stripper gearbeitet hat, bleibt sein Geheimnis. Zwischen den einzelnen Szenen kehren die drei immer wieder zur Bühnenrückwand zurück, wo sie zum Auftanken kräftig in die Seiten von drei Elektrobässen
greifen. Körperhaltungen werden beschreiben, um von den anderen nachgeahmt zu werden, aber das Resultat ist erwartungsgemäß alles andere als identisch mit dem Original. Während der Raum sich verdunkelt, beschreibt Gaetan Bulourde mit dem Rücken zum Publikum stehend am Ende noch einmal das, was er sieht. Doch was sieht man wirklich im Dunkeln."
Gerald Siegmund (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.01)
STATIONEN
"Station 1, Berlin"
"Die Begegnung von Theater und Realität"
von Constanze Klementz
Berliner Morgenpost, 4.10.03
Der Berliner Choreograf Thomas Lehmen ist dem Realen auf den Fersen - im Theater. Dass das Sein auf der Bühne mit dem Dasein draußen nicht zusammen kommen kann, lässt er nicht gelten und beide in der ersten Erarbeitung von "Stationen", vor dem Hintergrund der Systemtheorie aufeinander los. Kommt man auf gleiche Augenhöhe, wenn das System Theater, auf seine Funktionalität reduziert, anderen sozialen Systemen begegnet?
Man trifft sich an einer Tafel: der Choreograf, der sein Projekt einführt. Die Realität, die er per Annonce auftrieb: Leute, die von ihren Tätigkeiten erzählen wie der Versicherungsmakler Knut, die Anwältin Tanja oder Gabriele, die Heilpädagogin. Tänzer, die vorerst nicht tanzen. Zuschauer, die aufgefordert sind, Nachfragen zu stellen oder von den Tänzern in Gespräche über Themen wie Zusammenleben oder die Kartoffel verwickelt werden.
Lehmens Recherche folgt einem bestechenden Konzept. Mit der Überlagerung von Authentizität und Repräsentation hat er gerechnet. Doch auch mit der Autorität des Theaters? Die Vertreter des "echten" Lebens verführt es zur Darstellung ihrer selbst, und als Selbstdarsteller werden sie präsenter als die Systeme, die sie verkörpern. Folge: Immer mehr Zuschauerfragen bohren ins Private. Die choreografische Sequenz im Zentrum von "Stationen" als Zusammensetzung einzelner Bewegungsmodule bleibt unkommentiert, der Tänzer als Interpret und Person unhinterfragt. Man nimmt den Tanz hin; man muss und kann ihn nicht durchschauen. So sät Lehmens Laboratorium nicht nur klug Verunsicherung, sondern auch manches Klischee. Umso glaubhafter ist es.
"Die Profis"
von Katrin Bettina Müller
taz, 4.10.03
Ausschneiden, kopieren. Seit es Computer gibt, sind diese Funktionen alltäglich geworden. Ein Stück aus der Realität ausschneiden und im Theater wieder auf die Bühne setzen: Das praktizieren Theatermacher, Performer und Musiker zwar auch schon seit zwei Generationen, alltäglich aber ist es dennoch nicht. Vielleicht, weil die Orte, an denen das geschieht, noch immer an der Peripherie der großen Kulturinstitutionen liegen. Vielleicht, weil der Hunger nach Alltag in den Medien oft so starre Formate erzeugt, dass denen zu entkommen inzwischen wieder zu einer eigenen Kunst geworden ist. Ganz sicher aber, weil sich der Kontext und die Motivationen ändern, mit denen der Realitätsausschnitt verschoben wird.
Thomas Lehmen, Performer, Tänzer und Choreograf, wählt jetzt zum Beispiel den Ansatz der Systemtheorie. In "Stationen", im Berliner Podewil uraufgeführt, sucht er nach dem produktiven Mehrwert der systemtheoretischen Erkenntnisse für künstlerische Produktionsweisen. Also denkt er sich Strukturen aus, um verschiedene Systeme zusammenzubringen und auf Berührungspunkte, Reaktionsformen und ihre inkompatiblen Elemente hin zu untersuchen. [...]
"Sind Sie traurig, gucken Sie zur Decke"
von Michaela Schlagenwerth
Berliner Zeitung, 10.10.03
Anfang des Jahres gab der Berliner Choreograf Thomas Lehmen eine Anzeige auf: Theaterproduktion sucht Menschen in Berufen aller Art". Mehrere hundert riefen an. Mit einigen haben sich Thomas Lehmen und sein Team getroffen. Man saß gemeinsam um einen Tisch, die Menschen erzählten von ihren Berufen, "und das", sagt Thomas Lehmen, "war eine spannende Aufführung".
Im Podewil haben sich letzte Woche zu der "Station I" Menschen in Berufen aller Art um einen großen Tisch versammelt. Es sind auch Tänzer anwesend, die später weniger tanzen als vielmehr Bewegungsabläufe aus dem Alltag probieren werden. Es gibt Leberwurst- und Käsebrote, und an der Seite wird an einer eigenen Tanzzeitschrift gebastelt, die man für 2,50 Euro erstehen kann. 40 Zuschauer sitzen mit um den Tisch. [...]
Am Ende sitzen die Menschen noch lange in kleinen Grüppchen. Er habe sehr nett mit Thomas Lehmen telefoniert, sagt der Pfarrer, und zwei Termine vereinbart. Man müsse nicht immer kommen, nur wenn man kann. Die Skepsis gegenüber den kommerziell orientierten Produktions- und Präsentationsformen auf dem Tanzmarkt bringe Choreografen auf die Suche nach anderen Arbeitsweisen, heißt es im ersten Aufsatz der eigenen Zeitschrift.
Susanne Foellmer über: Operation
"Ein Setting für das Reale - Stationen von Thomas Lehmen"
von Sabine Huschka
Tanz Journal 6/03
Wir betreten einen Produktionssaal im ersten Stock des Berliner Podewil und befinden uns inmitten einer räumlich und funktionell disparaten Situation. Verschiedenartige Gegenstände und Ensembles säumen den Saal. In der einen Ecke steht eine Bar, an der wir Wasser und Schnittchen bestellen. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes stehen mehrere Produktionspulte mit Laptop, Drucker, Papieren, Stiften, Kästen, Kabeln. Dahinter sitzen mehrere Leute. Es wird Zeit, Platz zu nehmen. Die Stühle stehen in unregelmäßiger Reihung um einen großen Tisch geschart in der Mitte des Saales. Auf dem Tisch liegen alte, zerlesene Zeitungen. Die Bühne im Produktionssaal, hinter den Arbeitspulten aufragend, klafft dunkel und leer.
Wir werden von Thomas Lehmen begrüßt und eingeführt in die selbstgenügsame Logik der bisherigen Produktion. Er selbst wüsste nicht, wie jene sich als Aufführung gestalten werde und aus welcher Position heraus wir - die Zuschauer - in das choreografische Geschehen eintreten. Die Idee wäre gewesen, den theatralen Raum gegenüber dem Realen nicht dergestalt zu verschließen, um seine Facetten allein fiktional anzuzeigen. Vielmehr solle qualitativ etwas aus ihnen für sich sprechen und als solches den kommunikativen Produktionsprozess Theater bilden. Mit dieser Fragestellung erweist sich Lehmen als choreografischer Denker und Tänzer, der das seiner eigenen Bewegungsarbeit geschuldete Wissen um den realen Konnex körperlicher Darstellungskunst zu aktivieren sucht.
Wie sehr dieses Wissen stets mit dem Imaginären umgeht, auch wenn es bemüht ist, den energetisch-theatralen Impetus tanzender und erzählender Körper im kühlen Bad tatsächlicher Bewegungsausführung und einer ‚narration concrète' einzutauchen, davon handelt "Stationen" ebenso wie von der Kunst des Choreografischen, eine unaufgeregte und unprätentiöse Auseinandersetzung mit anwesenden Körpern in der Situation Theater zu führen.
Zeitungsannoncen hatten zu Beginn der Produktion nach "Menschen aus Berufen aller Art" gesucht für eine Theaterarbeit, in der die jeweiligen Personen nicht ihre Berufe ausüben, sondern über sie reden sollten. Lehmens Choreografie suchte nicht nach Talenten für eine gute Tanz- oder Schauspielperformance, sondern schlicht nach Leuten, die anderen über ihren eigenen Beruf erzählen. Ihre Erzählungen, so betonte Lehmen, bildeten schon während der Probenphase die situative Grundkonstellation Theater, da alle Beteiligten (Menschen aus Berufen, Tänzer, Choreograf, Dramaturg, Fotografin u.a.) zusammen im Sinne von Akteuren und Publikum gearbeitet hätten. Was nun durch den Eintritt des Publikums geschehe, sei unsicher.
"Stationen" versteht sich demnach nicht als Stück, das zur Aufführung gelangt, sondern als öffentlicher Prozessverlauf, in dessen choreografisches Gerüst das Publikum als weitere Systemgruppe eintritt. Lehmen denkt ihre wahrnehmungsästhetische Haltung als Bestandteil bühnenästhetischer Arbeit, dessen Choreographie mittels der Zuschauerkörper die ästhetische Konstellation einer Aufführung erhält. Räumlich und dramaturgisch werden die Zuschauer in choreografische ambiguine Szenerien platziert, unentschieden in ihrem real-ästhetischen Charakter. Radikaler noch als in seinen früheren Arbeiten vernetzt Lehmen die Plätze, Orte und Rollen aller Beteiligten zu wechselnden Situationsanordnungen, deren Funktionen demonstrativ mit Realbezügen belegt sind. An der Bar bedienen zwei Menschen aus "Berufen aller Art", frühere Kneipiers, auf der Bühne tanzen ausgebildete Tänzer, am Gesprächstisch der ersten Szene sitzen der Choreograf und Dramaturg Sven-Thore Kramm und alle weiteren Akteure. Immer wieder im Laufe des Abends erhebt sich die Frage auf: Wo befinde ich mich eigentlich? Das Publikum wird ständig angehalten, die eigene Anwesenheit zu überprüfen.
Zu Beginn erzählen einzelne Personen über die situativen Besonderheiten ihres Berufsstandes: der Versicherungskaufmann Knut Ernst berichtet von den Vorzügen von NLP bei der Arbeit im Außendienst. Szenisch führt er uns die goldene körpersprachliche Regel für eine geglückte Kontaktaufnahme mit dem Kunden vor. Der Pförtner Arno Kölker gleitet im Erzählen seiner beruflichen Realität hinein ins Imaginäre. Geradezu emphatisch führt er uns seine jüngste Idee vor: den Blues des Pförtnerberufs. Und so singt er uns dessen Lied, erschafft tanzend und schauspielernd die "Pförtnerloge". Er wächst zu einer theatralen Figur heran und betritt den symbolischen Raum Theater, der bislang unserer Wahrnehmung verschlossen blieb. Mit Enthusiasmus wird damit jener faszinierende und schamfreie Repräsentationsraum Theater betreten, in dem man vorgeben kann, jemand anderer zu sein. Kurzzeitig blitzt all das auf, was Stationen ansonsten an den Rand drängt. Denn obwohl die Gesprächsrunde einer Talkrunde ähnelt, adaptiert sie nicht deren kommunikative Regeln von bekennender oder werbender Rede, von einfühlsamen oder provokanten Fragen. Wir Zuschauer wohnen der Runde in zweiter und dritter Reihe um den Tisch gescharrt bei, ohne eindeutige kommunikative Rolle. Dieses Unbestimmte, Freiwillige und Optionale spiegelt sich im Verhalten der Zuschauer: Manche hören die ganze Zeit aufmerksam zu, andere stehen zwischendurch auf, gehen zur Bar und trinken ihr Bier, manche beteiligen sich und stellen Zwischenfragen.
Die nachfolgende Szene platziert uns an einzelne im Raum verteilte Tische, deren Ensemble einer Varietéshow ähneln. An der Tafel schreiben in kreisrunder Anordnung die Worte "Raum - Bild - Beziehung - Qualität - Bewegung - " denjenigen Prozess vor, den die Tänzer im weiteren gestalterisch durchlaufen. Sie flüstern sich Anweisungen ins Ohr und folgen in ihren kurzen Bewegungssequenzen den Strukturvorgaben des choreografischen Systems. Bewegungsmotive werden im Raum, ihrem imaginativen Gestus, ihrer Qualität und in ihrer Beziehung zu anderen variiert, wobei die Anweisen selbst uneinsichtig bleiben. Einsichtig wird indessen das performative Moment choreografischer Arbeit, dessen Produkte wie willkürlich die Situation prägen. Später wechselt das Geschehen zu einzelnen Tischgesprächen, die phasenweise einzelne Themen zum Gegenstand haben. Sprecher sind diesesmal die Tänzer und sie erzählen den Zuschauern an den Tischen von Kartoffeln, Türgriffen, Plastiktüten, vom Zusammen-Sein, vom Wasser, der Migration, der Wäsche, von der Hygiene, der Mafia, der Familie. Wann dieser Abend zu Ende geht, bestimmt jeder für sich. Den ganzen Abend über ertönt kein Applaus, denn wer applaudiert sich schon selbst?
Helsingin Sanomat, 30.9.2012, Marja Hannula
Vom Museum zum Raumschiff in einer Stunde
Bitte-Choreographie in Zodiak. Konzept Thomas Lehmen. Tanz Hermann Heisig, Thomas Lehmen, Eeva Muilu, Vera Nevanlinna, Liisa Risu. Dramaturgische Zusammenarbeit Claudia la Rocco. Choreographische Assistentin Alyssa Gersonty. Lichttechnik Anna Pöllänen. Tontechnik Jussi Matikainen.
Tanz. In einer Stunde gelangt man gut von einem Museum zu einem Raumschiff. Nie zuvor habe ich auf der Bühne so glaubhafte Gipsstatuen oder Sternenhimmel gesehen wie in der Bitte-Choreographie des deutschen Choreographen Thomas Lehmen, die am Donnerstag ihre Uraufführung hatte. Und es gibt nicht einmal ein Bühnenbild.
Die Inszenierung kann man als geniale Situationskomödie sehen, in der der Monty Python-ähnliche Tänzer Hermann Heisig sich u.a. in das Dasein eines Museumswächters einfühlt. Oder man kann sie als quantenphysische Untersuchung über die menschliche Kommunikation bewundern. Der Schlüssel zur Betrachtung der englischsprachigen Inszenierung ist das höfliche Fragewort: könntest du (please)? Die Tänzer bitten einander um merkwürdige Dinge, wie große Kinder: „Könntest du ein zerfallendes Raumschiff sein“? „Könntest du die dunkle Seite des Nachbarn sein?“
Der Bitte wird stets nachgegeben. Eeva Muilu beispielsweise stellt den Besitz des Nachbarn dar, indem sie hinter seinem Rücken wir Graf Dracula hervorschielt.Man lacht, und bald verstummt man. Mit dem Bitte-Antwort-Spiel konstruiert jeder der Tänzer seine eigene Geschichte. Am Ende vermischen sich die Elemente von Gipsstatue bis Wasserbett und konstruieren ein kollektives Bewusstsein und eine Ebene der Kreativität.
Die Art, wie Lehmen und seine Kollegen die Welt kommentieren, geht unter die Haut. Die Tänzer stimmen sich sensationell auf die Energieebenen der Gegenstände und Gefühle ein.
Franz Anton Cramer über Schreibstück
Franz Anton Cramer:
Das Gespenst der Freiheit: Beobachtungen zu Schreibstück von Thomas Lehmen
Daß man Tanz aufgrund schriftlicher Quellen rezensieren könnte, ist bisher noch niemandem in den Sinn gekommen. Es scheint auch allzu abwegig, gilt doch die augen-blickliche Darbietung von Bewegung in Raum und Zeit als eines der Hauptkennzeichen des Genres. Allenfalls im Wissenschaftsmilieu gab es Beschäftigung mit Tanz und Schrittnotationen, um daraus historische Zuordnungen und bisweilen auch ästhetische Werturteile abzuleiten. Andererseits ist in den vergangenen Jahren im Bereich des zeitgenössischen Tanzes kaum eine Frage (von der Körperdebatte einmal abgesehen) so intensiv behandelt worden wie die nach Autorschaft Werkcharakter einer Choreographie.
In diesem weiten Problem-Feld hat Thomas Lehmen mit "Schreibstück" (uraufgeführt in einer ersten Version im August 2002 im Rahmen des Festivals "Tanz im August" im Berliner Podewil) eine markante Position bezogen. Denn in diesem Projekt steht überhaupt nicht mehr die Bewegungsfindung (als Wahrheitsfindung oder als Ich-Bekundung) im Mittelpunkt, sondern nur noch die Themen sowie die zeitlichen Abläufe innerhalb und die Konvergenzen zwischen drei unabhängig voneinander entstehenden Choreographien. Sie sind zwar nach schriftlich niedergelegten Vorgaben " nach einer Partitur " zu entwickeln und aufzuführen. Die Bewegungen selbst, die eigentliche, die körperliche Verwirklichung dagegen sind ganz in das individuelle Verhältnis von Choreograph und Tänzern überantwortet; der Autor hat darauf keinen Einfluß mehr.
Damit sind zentrale Fragen aufgegriffen (oder vielmehr: aufgeschrieben), die gegenwärtig im Tanzdenken und in der Reflexion über Choreographie auf der Tagesordnung stehen: Autorschaft, Wiederholbarkeit, Wahrheitsbehauptung, Individualität, Bühnensituation/Verhältnis zwischen Zuschauer und Bühnengeschehen (also Wahrnehmungsfragen). Auch die Schriftlichkeit im Gegensatz zum "Unmittelbaren" sowie das Verhältnis zwischen dem Sukzessiven und dem Simultanen sind thematisiert.
Diese übrigens auch juristisch (wer hat woran welche Urheberrechte: der Autor am Buch, der Choreograph an der Umsetzung, der Tänzer an seiner Leistung?) und organistorisch (wer ist Produzent der Einzelversionen? Wer zahlt wem wieviel und wofür?) komplexe Gesamtanlage betont zugleich die Unterschiede der beteiligten Teams hinsichtlich der kulturellen Einbindung, der Biographie, der ästhetischen Orientierungsmuster, des Vorwissens beim Publikum und dergleichen mehr.
Bereits die Uraufführung zeigte frappante Differenzen in der tänzerischen Selbstdarstellung aus Estland, Deutschland und Portugal. So spannte sich die Auffassungsbreite zum Thema "Liebesgeschichte" zwischen einer Art tänzerischem Bänkelgesang frei nach Shakespeares "Romeo und Julia" und einem grotesken Hüpfspiel bizarrer Phantasiewesen aus. Aber es gab auch übereinstimmende Lösungen. Sie waren naheliegend bei der Aufgabe "Ficken" oder "Arbeiten". Dass die Nichtdarstellung von Inhalten, etwa in "Denken" (wo die Mitteilung eines Inhaltes laut Partitur strikt verboten ist) oder in "Warten und Zuschauen" im reinen Vollzug wenig spektakuläre Angebote machen kann, ist ebenfalls einleuchtend und gehört zum Konzept. (Nur am Rande sei bemerkt, daß sich zur Aufgabenstellung "Gemeinsame Choreographie" die drei Gruppen auf "Pina Bausch" geeinigt hatten, jedoch eines der beteiligten Teams nicht über eigene Anschauungswerte verfügte und daraufhin eine aufschlußreiche Sequenz "à la manière de Bausch" zeigte; woraus zu schließen ist, daß das Primat tanztheaterlicher Dramaturige und Bewegungsfindung im Wuppertaler Stil nicht mehr unbedingt zum Weltkulturerbe des Tanzes gezählt werden kann " )
Die in "Schreibstück" vorgegebene Organisation von Bühnengeschehen (kanonhafter Ablauf, thematische Anordnung) und Einzelinterpretation eröffnet also, trotz aller Strenge, einen gewaltigen Raum der Freiheit. Er wird gerade im Simultanen deutlich " dann nämlich, wenn alle drei Versionen gleichzeitig ablaufen und bei bestimmten Stellen (und hier hat sich der Autor auch als Komponist mit geschickter Stimmführungs-Gabe betätigt) eine thematische Gleichzeitigkeit erreichen, die sich dann aber gerade nicht in synchroner Bewegung ausdrückt. (Dieses Zeichen autorschaftlicher Omnipotenz ist in der ideellen Choreographie zu "Schreibstück" definitiv getilgt.)
So vollzieht sich im simultanen (und das heißt hier vor allem auch: unübersichtlichen) Tanz-Geschehen eine Verschiebung, die Thomas Lehmen im Buch zum Stück " es enthält gleichsam das reflektorische Ausgangsmaterial des suchenden Choreographen " mit folgender Frage einleitet: "Welche Art von Gedankenräumen muß man schaffen, die nicht von Bedeutungsfixierung besetzt sind, sondern im Verstehen der Zeichen eine Erweiterung und Veränderung ermöglichen?" "Schreibstück" wäre ein solches Aufführungsmodell, das den gemeinsamen Kern, der jeder Form von Kommunikation innewohnt, bewahrt, ohne das volle Recht auf Eigenständigkeit der Entscheidung zu beschneiden. Ein Aufführungsmodell also, das sich auf allgemein zugängliche Zeichen stützt und trotzdem den Eigen-Willen beläßt. Jeder darf sagen " oder tanzen ", was und wie er möchte. Nur an die Grund-Regeln muß er sich halten. Das "System" zur Erzeugung von Formen und Inhalten bleibt aber durchlässig.
In "Schreibstück" ist somit eine völlig neue Draufsicht auf den kreativen und darstellerischen Prozeß gegeben. Er liefert Ideen, welche erst im Verständnis bei und in der Ansicht durch andere "schöpfende Individuen" ihre Realisierung, ihre "Echtheit" finden. Ich habe diese Verschiebung eine grundstürzende Umkehrbewegung genannt, gleichsam den Marxschen Umsturz einer bis dahin ideal geglaubten, Hegelschen Weltordnung des Tanzes.
Denn es steht jetzt die Bewegung nicht mehr im Mittelpunkt und auch nicht mehr die einzelne Ausführung. Sondern nur noch die abstrakte Partitur bietet Orientierung. In ihr aber öffnen sich die prozeßhaften Räume der Ver-Wirklichung. Sie ermöglichen ein Verstehen in der Veränderung. Und zwar nur dort. Somit wäre im Projekt "Schreibstück" nicht nur das Motiv der Partitur als schriftlicher Spur eines abwesenden Autors und also dessen schöpferische Urfunktion‚ nochmals zerlegt. Sondern es ist auch die Kategorie des Werks mit ihrem Dogma des stilistischen Sinnganzen ausgehebelt.
Nicht, daß man also nichts verstehen könnte. Aber es gibt eben keinen metaphysischen Referenzpunkt mehr, kein choreographisches Transzendentalsignifikat (Gruß an Derrida). Die Umkehrung ist sozusagen doppelt gewendet: Was man sieht und was man sehen wird, ist ein Vorgang der immerwährenden Annäherung an eine Partitur und ihre Inhaltlichkeit, die jedoch ohne die Auseinandersetzung mit und durch Andere gar nicht wäre. Oder bloß ein Buch bliebe.
So ist "Schreibstück" vielleicht das derzeit einzige zeitgenössische Choreographieprojekt, welches sich aufgrund schriftlicher Quellen besprechen läßt. Denn es spricht für sich selbst. "Verstehen ist in erster Linie ein Zustand des Akzeptierens. Nicht nur des anderen, sondern das Akzpetieren, dass die eigenen geschaffenen Definitionen und Zeichen von etwas nicht notwendigerweise eine adäquate Entsprechung im Sinngefüge des anderen haben", schreibt Lehmen im Buch zu "Schreibstück". Das wäre gleichsam die Hohlform des kreativen wie des kommunikativen Prozesses. Doch verliert das Motto des Buches zum Stück dadurch nicht an Gültigkeit: "Ich bin ja Künstler, und da kann ich schreiben, was und wie ich will." So viel Freiheit muß sein. Auf beiden Seiten.
© Franz Anton Cramer
Der Wahrheit Raum bieten
Das Kollektiv als Autor: Das "Schreibstück", eine Partitur für Tanz und Theater von Thomas Lehmen, dem Berliner Choreografen und Performer, wird europaweit in immer neuen Versionen aufgeführt
von FRANZ ANTON CRAMER
Wie viel Wahrheit passt in eine Minute? Laut Jean-Luc Godard lässt sie sich mindestens 24-mal ablichten. Wie viel Wahrheit auf eine Tanzbühne passt, ist schon schwerer zu sagen. Der Choreograf Thomas Lehmen sucht eine Antwort darauf mit neuen Konzepten. Wenn über den Tanz im herkömmlichen Sinne gesagt werden kann, er sei "das Fiktive an der Körperbewegung" (Helmut Ploebst), dann geht es Lehmen um das genaue Gegenteil: den Augenblick der Wahrheit oder jedenfalls der Ehrlichkeit in der aufgeführten Bewegung zu suchen.
"Distanzlos" hieß 1999 ein Solo, das davon handelte, welche Materialien des Lebens als Material der Kunst in Betracht kommen. Anstatt aber eine solche Auswahl tatsächlich zu treffen, führte Lehmen seine Performance immer entlang der Grenze zwischen Künstlichkeit und Realität, zwischen dem Nachdenken über sich selbst und dem Vorführen von Ideen. Auch "mono subjects" (2001) fragte, wie man den Anforderungen der Bühne gerecht wird und trotz alledem nicht ins Spektakelhafte verfällt.
Aber die radikalste Antwort auf die Wahrheitsfrage im Tanz ist Lehmens "Schreibstück". Denn es ist zuerst einmal ein Buch. Darin wird ein Tanzstück festgeschrieben und erläutert, an dem Lehmen als Autor alle Rechte hält. Nicht aber als Choreograf. Der Inhalt nämlich wird von anderen realisiert. Jeweils ein Choreograf und drei Tänzer kaufen die Rechte und machen aus der Partitur ein Stück. Drei solcher Interpretationen werden dann an einem Abend aufgeführt, organisiert wie ein Kanon. Was jedes Team aus den schriftlichen Anweisungen macht, muss sich zwangsläufig gegen die beiden anderen Fassungen behaupten können.
So entsteht ein dauernder Fluss aus Einzelbildern, Spiegelungen und Zufällen. "Das wichtigste Element in "Schreibstück" ist die Zeit", ruft ein Tänzer im Utrechter Akademietheater und schwenkt seine Stoppuhr. "Ganz gleich, was wir machen, es darf nur eine Minute dauern!" Er ist gerade mit der Aufgabe "Stück erklären" befasst. Davor lautete das Thema "Ficken", später kommt etwa "Ich existiere" oder "Drei Gefühle". Insgesamt 39 solcher Themen gibt es, arrangiert in drei Abschnitten zu jeweils dreizehn Einheiten, die je eine Minute dauern. Was nach Kopflastigkeit klingt, ist inzwischen Grundlage für ein europaweit geknüpftes Netz aus Veranstaltern und Tänzern. Denn es ist ein Hauptanliegen von "Schreibstück", die Regeln für Verstehen und Kommunikation unter verschiedenen Künstlern zu erweitern. Internationalität versteht sich da gleichsam von selbst. Versionen sind bislang in Amsterdam, Lissabon, Berlin, Helsinki, Tallinn und Nottingham entstanden, Brüssel, Antwerpen, Gent und Valenciennes folgen demnächst.
Natürlich mangelt es nicht an Vorwürfen gegen ein solches Korsett für die "freie" Kunstform Tanz. Nach der Neufassung mit je einer Gruppe aus England, Holland und Estland, die im Rahmen des Utrechter "Springdance"-Festivals uraufgeführt wurde, erbosten sich manche über das Aufstellen der Regeln. Damit verhindere "Schreibstück" die lebendige Begegnung mit dem Publikum, das ganze Projekt verachte die Institution Theater. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass ein Großteil der Zuschauer den 3 mal 3 mal 39, also insgesamt 351 Wahrheitsmomenten ziemlich gut gelaunt folgte. "Schreibstück" macht nämlich Spaß, als konkurrierender Wettbewerb, Improvisation und Kunststück. Mögen die einzelnen Interpretationen bisweilen unleserlich sein: Sie erlauben immer sehr persönliche Gesten. Gerade der allgemeine Rahmen der Szenen lässt jede Ausführung zugleich zu einem Porträt werden. Beim niederländischen Team - choreografiert von Klaus Jürgens (Hans Hof Ensemble) - war sogar Klamauk dabei. Zum Thema "Arbeiten" schrieb man drei Pappdeckel mit der Zeile voll: "Die Internationale erkämpft das Menschenrecht" und sang anschließend, in der Abteilung "von weiterer Bedeutung", dazu: "Völker, hört die Signale". Natürlich nur eine Minute lang. So viel Systemtreue muss schon sein. Die Gruppe aus Nottingham hatte sich dagegen eher ans Tänzerische gehalten und eine Art schnörkellose Arbeiterfassung abgeliefert, während die drei estnischen Akteure fast alle Themen als Plattform für schnurriges Non-Acting verwendeten und sich auch mal (Thema Globalisierung!) zu Coca-Cola oder auch zum Nokia-Handy deklarierten.
Wem "Schreibstück" dennoch zu sehr nach Tanz riecht: An eine Schauspielfassung wird bereits ernsthaft gedacht. Und vielleicht gibt es ja bald auch eine gesungene Partitur. "Schreibstück", so hat sich in Utrecht wieder gezeigt, bietet in Wahrheit Raum für ebenso viele Freiheiten, wie man sich nur auszudenken wagt.
Thomas Lehmen hat seine Position als Choreograf damit nicht nur in die eines Autors verwandelt, sondern mehr noch in die eines Labels, das zu kollektivem Samplen einlädt. In der Wahrheit, die er sucht, ist Platz für viele. Das ist das Nette an seinen Konzepten.
26.4.2003 taz Kultur 175 Zeilen, FRANZ ANTON CRAMER S. 14
Rezension
berlin____
thomas lehmen «schrottplatz»
Thomas Lehmen ist künstlerischer Sonderresident bei PACT Zollverein in Essen. Der langjährige Berliner, gebürtige Oberhausener, moderiert seit einer ganzen Weile dort sogenannte «choreografische Dialoge» mit freischaffenden Kollegen. Seine eigene, auf PACT Zollverein uraufgeführte Produktion hat den vergangenheitsablagernden Titel «Schrottplatz» («Schrott» machte schon die Kölnerin Barbara Fuchs zu einem vergnüglichen Stück). Aber es kommen keine halb kaputten Geräte oder Müll und Dreck in Lehmens Performance vor. Ihm geht es um Begrifflichkeiten: Warum bezeichnen wir etwas so und etwas anderes anders? Er gibt seinen zwölf Dingen (welch jüngerhafte Zahl) auf der Bühne Nummern: der Tomate, der Axt, der Kabelrolle, dem Mikrofon, dem Stein, der Sardinendose, legt sie auf die Stuhlreihe gegenüber dem Publikum. Man fragt sich, wann die Axt die Tomate killen wird. Natürlich unterläuft Lehmen solch plumpe Erwartungen.
Die Mikrofonbirne in der einen, wendet er sich an die Tomate in der anderen Hand. «Ich muss mal mit dir reden. Was ich nicht verstehe: Wo die Menschen alle hingehen.» Weil er Mensch ist, versucht er, das Mikrofon zu verstehen und schraubt es auseinander. Benennt später fachbuchartig die Einzelteile eines Stuhls, kommt mit seinen Definitionsversuchen von Stöckchen auf Hölzchen, also von «Sitzen» («Das ist zwischen Liegen und Stehen») zu Boden, zu Gebäude, Kabel und Beamer: «Der kann Bilder werfen. Bilder sind Erscheinungen von Erscheinungen.» Gelangt so von «Ich» zu Erde, Universum, Kunst. «Ihr als Dinge», sagt er, lasst die Menschen glauben, was sie sehen, sei wirklich da; dabei seid ihr Dinge Erscheinungen. Lehmen wendet sich nicht dem Publikum, sondern den Sachen zu.
Wehrlos sind sie auf ihre Stühle platziert, wie wir. Wir erscheinen als stumm darbende Zeugen von Lehmen, der die Dinge beschwört, den Schamanen gibt und sich vor ihnen aufführt. Handflächen aufgeklappt, große Gesten, Drehungen, Schleichen, Rennen, etwas Imaginäres fassen, werfen. Vielleicht gähnt die Tomate, wenigstens innerlich. Jeder, der mal gutes Objekt- oder Figurentheater gesehen hat oder einfach ein Kinderspiel, weiß, wie viel passieren kann. Aber nie wird klar, worauf Lehmen hier hinaus will. Niemand lacht. Jeder denkt sich wohl strohkopfnickend ein bisschen was zur Scheinhaftigkeit der Existenz und zur Hintergehbarkeit der Wahrnehmung.
Erst zum Schluss bezaubert der Performer mit zwei Funkgeräten, die in einer gewissen Distanz zueinander rückkoppeln. Eines steckt in seiner Hemdtasche. Je nachdem, was sein Träger mit sich selbst anstellt; es fiept, knistert, schwackelt, knackt und röhrt. Er zwirbelt seinen Körper, wedelt mit Armen, geht zu Boden, hüpft, deutet auf die Stühle und auf sich. Schließlich am Boden gelandet, mit all den dinghaften Kollegen ebenfalls zu Abfall geworden, tönt das Gerät klaglos «wööööö». Applaudiert so seinem Gott der kleinen Dinge.
Melanie Suchy
Wieder in Berlin, Sophiensaelen, 4. Nov.
sophiensaele.com
tanz 1110
PRESS:
Funktionen
Dance art facing land
28.07.2004
Tiit Tuumalu
Nicolas Philibert, one of the most successful documentary film makers in the world, for us familiar as author of the film “Etre et avoir”, told recently in Pärnu, that he never does a film about something, but always with something.
There is a principal difference. First one closes, second one opens oneself to the subject. Figuratively speaking: if one is cooping the subject up in the cage, then the other one is letting himself to be cooped up. The result is accordingly illustration or poetry.
Unquestionably Philibert is a poet. Also German dance maker Thomas Lehmen is a poet, but differently - he is a poet-scholar. Despite the fact that he is curiously observing life and letting the life to form him he never looses his sober mind. Behind the sharp and direct perception you can always have a hunch of theoretical backstairs, why and for what.
Indefinite like poetry, punctual as mathematic, such is the dance of Thomas Lehmen.
At the festival “Stuudiotants” on Saturday in Märjamaa culture house we could see, how to make dance with something. Namely in this night was presented Lehmen’s work-in-progress “Funktionen”. At the moment he is preparing his new work with Estonian (Krõõt Juurak, Mart Kangro), German, Japanese and Hollander dance artists in village Kuusiku close to Rapla.
As the title says, the basis of “Funktionen” consists of different functions, stepping in at the moment the person starts to relate him/herself with surrounding. How much is being left over from our selves, how much are we taking over from others? Such dilemmas are flowing through dancers’ bodies mirroring every ones personal experiences.
It’s astonishing how much of documentary artist Lehmen is. He is not so much appreciating dancer’s physical potentiality as his/her personality and culture layers accumulated through time in his/her body. There is no special stylization in “Funktionen”, there is nobody dancing technique or combinations on stage, performance is forming of common, everyday movements, rituals and clichés, the dancers’ own or humankind collective ownership.
Such a thing could become boring. But it doesn’t. Etudes performed on stage are genuine and humorous. The old trick of taking a thing out of its real context and putting it into new one is working perfectly. Evidently dancers are enjoying their performing.
And most important, “Funktionen” does not claim to have the one and only truth. It’s asking certain questions, but not closing our “gates of perception” giving us freedom to answer the questions the way we understand them.
Here the other aspect intervenes. “Funktionen” has many layers: its surface is entertaining, but deeper inside you can find the philosophical sense. Everyone can find something, even those who are restricted to first layer.
“Funktionen” could stay for ever in the process, not ready made, in stadium, where searching is more important than finding and process is more important than the result. It could be performed only in small “studios”, such as Märjamaa. Isn’t it loosing part of its genuinity while the process is polished to a product?
Sanfter Macho
Thomas Lehmen in Berlin
Thomas Lehmen ist ein Kind des Ruhrpotts. Der Tänzer war Bauhelfer, Metallarbeiter bei Krupp in Duisburg. Seine Bühne, stets nackt wie jetzt am Halleschen Ufer, ist Baustelle, eine Montagehalle. Der Tänzer als Macho: Mit martialischer E-Gitarre, Rücken zum Publikum, spielt er sich in seine Zeit als Blas- und Saitenmusiker bei der Band «Core Cracker» zurück. Läßt er das Instrument sanft fallen, im Dunkeln, steht er da wie ein Joaquim Cortez, die kräftigen Hände streichen lasziv an seinem Körper herab. Links und rechts strahlen Monitore selbstgemachte Videoexperimente ab, die Eigengeräusche der Kamera sind die Musik des Filmertänzermusikers, der sich in Berlin einen Namen überrdies als Karate-Performer gemacht hat, in «Extended Version» und «Friendly Fire», zwei martialischen Vorgängerstücken. Die weibliche Lokalkritik fand sie degoutant: ein Macho, igitt. Ein Insistenter, der minutenlang das Letzte aus seinem Körper holt, ein Mann, der jetzt in «No Fear» die Hand fest ans Gemächt legt, die Zunge lüstern seinen Fingern entgegenleckt, Ausfallschritt rückwärts, die Hand am Gesäß, dann in Gallopp fällt, in lockere Boxbewegungen aus dem Oberarm heraus, danach in katatonisches Zucken. Das imaginäre Gegenüber bei Lehmen, Jahrgang '63, ist das Mannsbild. Lehmen erscheint irgendwo zwischen James Dean und Jimi Hendrix. Er tanzt ein Heldenbild, die Sportlernatur, den Kämpfertyp. Die Idee hat er von Mark Tompkins, mit dem Lehmen lange arbeitete (Tompkins verkitscht das Klischee, Lehmen unterwirft es seinem Körper), er knöpft sein Hemd auf, reißt es aus der Hose, schaut verletzlich, kniet vor einem imaginären, überdimensionalen Phallus, tritt mit Füßen auf die Saiten seiner Gitarren; aus jeder Geste der Stärke entnimmt er Feingefühl, hohe Verletzlichkeit, ein an der Grenze zur Überempfindlichkeit weiches Innenleben erscheint in einem Körper, der Tanzmaschine bleiben soll, eine rohe Marionette für Lehmens unzweifelhaft hohe choreographische Potenz. Arnd Wesemann bita 2.99